Biography | About | Video | Contact | Imprint | Privacy Notice
01 | 02 | 03 | 04 | 05 | 06 | 07 | 08 | 09 | 10 | 11 | 12 | 13 | 14 | 15 | 16 | 17 | 18 | 19
20 | 21 | 22 | 23 | 24 | 25 | 26 | 27 | 28 | 29 | 30 | 31 | 32 | 33 | 34 | 35 | 36 | 37

 

Ein Text von

Jochen Dietrich

Mai, 2013

Dr. phil Jochen Dietrich (1965) Studium in Münster, Siegen, Aveiro und Lissabon, 2000 Promotion mit einer Arbeit über Camera-Obscura-Fotografie.

 

 

"Je mehr du fotografierst, umso weniger bist du drauf."
aus: Kopfsalat, Gebrüder Engel 1982

 

Zu den Fotografien von Sarah Maria Besgen

In Italo Calvinos kurzer Erzählung "Abenteuer eines Fotografen" begegnet uns Antonino, ein nicht mehr ganz junger Mann, der eine Abneigung gegen das Fotografieren hat. Gern macht er sich lustig über seine Freunde, die die kleinen Ereignisse, die den ruhigen Gang des Lebens unterbrechen und zugleich überhöhen, mit enzyklopädischer Gewissenhaftigkeit und kindlichem Enthusiasmus auf Fotoplatten bannen. Und um den Keim des Zweifels unter ihnen zu säen, weist er darauf hin, dass es von einer Wirklichkeit, die so schön ist, dass sie fotografiert werden muss, hin zu einer Wirklichkeit, die nur deshalb schön ist, weil sie fotografiert wurde, nur ein winziger Schritt ist. Und sollte es so sein, dann gibt es nur einen Weg, das Leben insgesamt schön zu machen: alles, wirklich alles muss fotografiert werden. Antonino stichelt folglich: "Wenn ich zu fotografieren anfinge, würde ich diesen Weg bis zu Ende gehen, um den Preis, dabei den Verstand zu verlieren. Ihr dagegen wollt noch eine Auswahl vornehmen. Aber was für eine? Eine verniedlichende, tröstliche Auswahl, die mir das Idyll zeigt, den Frieden mit der Natur, der Nation, den Verwandten. Sie ist nicht bloß eine fotografische Auswahl, die eure; sie ist eine Auswahl des Lebens, die auch dahin führt, die dramatischen Gegensätze auszuschließen, die Widersprüche, die Spannungen der Leidenschaft, der Abneigung. So glaubt ihr, euch vor dem Wahnsinn zu retten, aber ihr verfallt der Mittelmäßigkeit, dem Stumpfsinn." Kurz: der Idylle, möchte man ergänzen.

Die Zweifel, die Antonino ausstreut, schlagen auf ihn zurück. Nachdem er zunächst noch widerwillig und um hier und da den Freunden einen Gefallen zu erweisen, die Kamera in die Hand genommen hat, schlägt er tatsächlich den angekündigten Weg bis zum Ende ein. Er fotografiert wie ein Besessener: sich, seine Liebe, die leeren Räume, die sie zurücklässt, als sie sich irritiert von ihm abwendet, schließlich alle Dinge, die nie fotografiert werden. Am Ende seines Leidensweges zerreißt er alle Bilder und fotografiert die Fragmente.

Fotos von Fotos

Bilder Abbilden, das ist das Projekt, das der Visionär Calvino an das Ende des Weges setzt. Angesichts des frühen Erscheinungsdatums (1970) erstaunt einen die Klarsichtigkeit, mit der Calvino das Medium – lange, bevor es für tot erklärt wurde – bis an sein Ende denkt. Uns, die wir medial schon lange durch den Wolf gedreht wurden, erscheint das beinahe schon selbstverständlich, fast trivial: es gibt nur noch eine fotografierte Welt, und jedes neue Bild ist nur eins von einem anderen, das es davon schon gab.

In dieser über-fotografierten Welt ist Sarah Besgen unterwegs, und sie bedient sich dabei einer medialen Anordnung, die selbst bereits eine Erinnerung an den Tod der Bilder in sich trägt, ebenso wie die ironische Brechung jeder Beziehung zur Wirklichkeit. Sie fotografiert mit Polaroid. 2008 stellte die Firma die Fertigung von Sofortbildmaterial endgültig ein. Im holländischen Enschede schloss das letzte Werk, und mit dem Ende des Produktes starben auch gleich reihenweise die Zulieferer, und mit ihnen das Knowhow, die Materialien und Maschinen. Seither ruhen die Patente des Dr. Land im Safe.

Das Pola ist tot, es lebe das Pola

Aber bereits zwei Jahre später kommt neues Sofortbildmaterial für die millionenfach in den Schubladen liegenden SX-70 und Polaroid 600 Kameras auf den Markt. Ein Lomografie-erprobter Spinner pachtet eine der verlassenen Hallen in Holland, schart ein Dutzend ehemaliger Mitarbeiter um sich und produziert auf einer der alten Maschinen, aber mit neu entwickelten Chemikalien, Filmpacks zunächst in Schwarz-Weiß, kurz darauf auch in Farbe. Allerdings kann die Euphorie nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Bastelei einiger Enthusiasten nicht an die Arbeit der Hundertschaft Ingenieure in der Polaroid-Produktentwicklung heranreichen kann. Die Schwarzweiß-Filme produzieren kein Schwarz, sondern irgendetwas Dunkles, zumeist mit gelb leuchtenden Einsprengseln. Die Farbfilme zeigen zwar Farbe, aber oft nur eine oder zwei, und auch die nicht immer vorhersehbar. Und auch der magische Moment des Erscheinens, der wohl das Attraktivste am alten Polaroid war, stellt sich neuerdings nicht mehr ein: das Bild muss direkt nach dem Auswurf aus der Kamera ins Dunkle, muss da je nach Temperatur des Ambientes stundenlang verweilen und verändert sich dennoch oft noch nach Tagen. Die Produktkritiken im Internet sind folglich verheerend; Flüche, Warnungen, Haare raufen, Spott.

Sarah Besgen lächelt darüber. Nicht überheblich, nicht spöttisch. Eher wie jemand, der nicht recht nachvollziehen mag, was andere da so auf die Palme bringt. Für sie sind diese unvollkommenen Materialien und die zugehörigen, etwas angestoßenen Kameras reizvoll und spannend. Sie kennt zwar auch die Frustration, wenn man noch eins und noch eins der teuren Bildchen durch die Kamera jagt und nichts dabei herauskommt. Sie erzählt aber auch – und wieder lächelnd – von dem langen Warten und "daneben Stehen", schließlich dem Moment, wo es plötzlich doch gelingt und einem das Ergebnis zufällt wie ein Geschenk.

Die Erfahrung des "Danebenstehens" ist beunruhigend für einen sogenannten kreativen Menschen. Sie kratzt sein Ego an, stellt ihn als den Hervorbringer seiner Bilder- und Vorstellungswelt in Frage. Er erfährt, dass er kaum Zugriff auf den eigentlichen Prozess hat, dass die fotografische Bildentstehung ihm entzogen ist und er keine Macht über sie hat: Die Fotografie ist plötzlich wieder eine magische Handlung und ein Akt der Auslieferung.

So wird das theoretische Problem der Autorschaft in der Fotografie zu einem individuell erlebten, womöglich erlittenen Paradoxon. Nachdem sie soeben den Zustand der Unmündigkeit verlassen, die fotografische Tätigkeit den Händen der Kultur- und Bilderindustrie entrissen und sich in fröhliche Kumpanei zu den subversiven Spinnern in Holland begeben hat, erfährt Sarah Besgen nicht ihren Triumph als Autorin, sondern gewissermaßen ihre Demontage. Das wirft die Frage auf, was überhaupt ein Autor sei – in der Fotografie, aber, von hier aus betrachtet, ebenso in den anderen (Bild-)Künsten. Es wirft aber vor allem die Frage danach auf, was an diesem Prozess der Verunsicherung eigentlich das Lächeln bewirkt – was da genossen wird bzw. werden kann, worin also, bei aller Widerspenstigkeit des Systems, seine Attraktivität liegt.

Die auf holprigem Weg entstehenden Bilder sind Wahrnehmungsmodelle, die notwendig nicht kohärent sind mit den Wahrnehmungsmodellen ihrer Autorin. Es bleibt immer ein Rest, der vorher nicht gewusst oder prävisualisiert werden kann und der sich als Unerwartetes, Überraschendes, Fremdes im Bild manifestiert: Abrisse der Emulsion, heftige Farbstiche, Lichter und Nebel wie Erscheinungen auf spiritistischen "Beweis-"Photos des 19. Jahrhunderts. Dieser Überhang an Unkontrollierbarem ist keine Schwäche des Systems (auch wenn die enttäuschten Kunden ihr Geld zurück wollen). Zwar kann man sich dieser Form der Zufälligkeit ausliefern und sich "einfach mal überraschen lassen". Meistens erfährt man jedoch das Fremde als Widerstand, der zu einer Stellungnahme herausfordert – Ist dieses Bild noch mein Bild? So schrieb die Fotografin Barbara Ess einmal über ihre eigene Arbeit:

"It’s almost as if someone else is taking the picture. The result is a view of the world, of human life, that an alien, a Martian might see for the first time: very direct, but at the same time separated, distanced – a 'peering' instead of a seeing."*

Dazu kommt, dass Sarah in der Regel nur einen Versuch hat und sie unter diesen erschwerten Bedingungen, die sie sich selbst gesetzt hat, nun alles auf eine Karte setzen muss. Und wird sodann mit einem Bild konfrontiert, das trotz alledem unerwartet und anders und folglich weniger ihres ist als eines, das sie mit einer normalen Kamera hätte machen können. Wie sich dazu verhalten? Soll sie das Bild (in das sie so viel investiert hat) und das durch es induzierte Wahrnehmungsmodell verwerfen? Oder soll sie das Fremde im Bild, das vorher nicht Gewusste und so nicht Gewollte, vorbehaltlos akzeptieren, das angebotene Wahrnehmungsmodell übernehmen, sich seinen Blick zu eigen machen? Irgendwo zwischen diesen beiden Polen fällt eine Entscheidung.

Vermutlich wird man Autor seiner Bilder sozusagen erst im Nachhinein, im Durchlaufen dieses Entscheidungsprozesses, und nicht im Akt der Produktion. Man macht seine Fotos nicht; man adoptiert sie.

Zufall

In der endlosen Debatte um Fotografie als Kunst und um die "Kunstfähigkeit" des Mediums hat "Zufall" als Argument in unterschiedlicher Weise eine Rolle gespielt, in der Regel jedoch in der Weise, dass Fotografie keine Kunst sein könne, eben weil einem das Ergebnis zufalle. Die schöne Möglichkeit, die bereits Fox-Talbot darin sah, dass nun jeder sich Ansichten von Landschaften, Städten und Pflanzen anfertigen könne, auch der im Zeichnen weniger Begabte, begründete unmittelbar die Gegnerschaft derer, die zeichnen konnten und der Meinung waren, dass subjektive Vision und handwerkliche Meisterschaft erst Künstlertum und Kunstfähigkeit gewährleisten. Die Euphorie darüber, dass nun jeder gute Bilder machen konnte, wurde erheblich gedämpft durch die etwas anders akzentuierte Beobachtung, dass nun eben jeder Depp ein gutes Bild machen konnte, wenn ihm nur der Zufall zur Hilfe käme. Die großartigste Fähigkeit der Fotografie, die Welt dazu zu bringen, sich selbst abzubilden und wahre, objektive Abbilder liefern und auf den Autor verzichten zu können, machte sie so lange untauglich für die Kunst, wie deren Kunst-Sein den Autor, seinen Geist, sein Genie, seinen Kopf und seine Hand als Ursprung vorsah. So überholt dieses Konzept an sich sein mag, es begegnet einem nach wie vor.

Man kann die Rolle des Zufalls jedoch radikal anders konzeptualisieren: einmal als "wissenschaftliches Experiment mit offenem Ausgang", dann aber auch – mit aller gebotenen Vorsicht – als Erfahrung von etwas "Heiligem" im Sinne Gregory Batesons, also als der intuitiven Erkenntnis, dass Alles mit Allem zusammenhängt und kommuniziert.

Die eine Sicht fasst die Tätigkeit des Fotografierens analog einem naturwissenschaftlichen Experiment auf. Damit wendet sie sich gegen die Idee von der Prävisualisierung des fotografischen Bildes, die den Akt des Fotografierens lediglich als Funktion der "eigentlichen" Bildfindungsprozesse sieht: Der Fotograf wähle das Motiv, setze es ins Bild, ordne die Wirklichkeit im Sucherrahmen zur Komposition, und die Kamera tue sodann bloß noch ihre Schuldigkeit, wie Cartier-Bresson es einmal formuliert hat. Sie fixiere lediglich den Blick des Fotografen.

Experimente macht man dagegen, um etwas herauszufinden. Man hat eine Hypothese, die man heranzieht, um aus ihr heraus den Versuchsaufbau zu entwickeln; man trifft bestimmte apparative Anordnungen, um zu Bildern zu kommen, die man nicht prävisualisiert hat, oder doch nicht bis ins letzte. Anders gesagt: Die Erwartung davon, wie ein Bildergebnis aussehen könnte, wirkt zwar auch in einer experimentellen Fotopraxis vom Ende her auf den Prozess ein, jedoch nicht determinierend, sondern lediglich anleitend, eine Richtung angebend. Die Arbeit des Fotografen ist es in diesem Fall, sozusagen die Bedingungen zu wählen, unter denen sich etwas ereignen soll. Hat man dies getan, kann man die Anordnung in Gang setzen und mit Spannung der Dinge harren, die da kommen. Es beginnt die Suche nach neuen Bildern – neu auch für den, der sie macht; die auch ihn überraschen, wenn sie sich auf und im Fotomaterial niederschlagen.

Die zweite Konzeptualisierung des Zufalls in der Fotografie scheint zunächst weniger analytisch zu sein. Der Zufall erhält hier beinahe den Charakter einer Epiphanie: In dem Maße, wie ich als Bildautor die Kontrolle abgebe, kann ich mir das Gelingen nicht mehr selbst zurechnen, sondern erfahre es als Geschenk. Und dieses Gelingen knüpft sich an die Erfahrung, dass irgendetwas "stimmt", das es "trifft", dass es sich einfügt in ein System komplexer Beziehungen und Beziehbarkeiten. Sarah Besgen – obwohl sie selbst sich als "Anfängerin" empfindet und als Suchende – ist dezidiert eine Vertreterin dieses Diskurses in der Fotografie, der den Zufall als "Das, was einem zufällt" auffasst bzw. als "Das, was einem zuteil wird" überhöht.

Was ihr auf diesem Wege zufällt, ordnet sie zu kurzen Bilderreihen. So lädt sie den Betrachter ein, an ihren eigenen "Adoptionsanstrengungen" teilzuhaben. Erklärungen jedoch erwartet der sich vergebens – die Ordnungen, die Sarah stiftet, orientieren sich offenbar weder an Entstehungszeit oder -ort, nicht an Gattungen oder Motiven. Manchmal scheint allein die schräge Farbigkeit einen Anhaltspunkt zu liefern, aber auch dieses Kalkül geht nicht für alle Reihungen auf. Schließlich erleben wir, die Betrachter, uns dabei, wie wir versuchen, uns einen eigenen Reim auf diese poetischen Bildfolgen zu machen, und wir erfahren dabei, dass diese Bilder uns an andere erinnern, weitere und noch weitere Fragmente unserer überfotografierten Welt.

In diesem Sinne sind die neuen alten Sofortbilder eben gar nicht instantaneous, unmittelbar, sondern Anmerkungen zu hundertfach Gesehenem, Notate zum Drehbuch eines alten Films. Die neunzehn Schichten des Filmpacks schieben sich zwischen uns und die Welt, die ihrerseits aus Schichten alter Bilder besteht. Was bleibt, sind blasse Reflexionen in einem Spiegelkabinett. Tritt ein, Antonino!


* In: O'Brien (1998), S. 24: "Es ist, als würde jemand anderes das Bild machen. Das Ergebnis ist eine Ansicht von der Welt, vom menschlichen Leben, die ein Außerirdischer, ein Marsmensch erstmals gesehen haben könnte: sehr direkt, und gleichzeitig getrennt, distanziert – mehr ein „Mustern“ als ein Sehen." (Übersetzung J.D.)